… denn Küssen ist keine Sünd’ bei einem schönen Kind!

Hektor Haarkötter – „Küssen“

von Frank Becker

Küß mich, bitte, bitte küß mich …
 
… denn Küssen ist keine Sünd’ bei einem schönen Kind!
 
Erfahrene Küssende wissen:
Nach dem Küssen ist vor dem Küssen.
 
Küß mich, bitte, bitte küß mich …“ sang Rudi Schuricke 1937 auf Electrola mit dem Orchester Ludwig Rüth in einem Schlager von Hans Carste und Klaus S. Richter - und viel andere wie Rosita Serrano, Caterina Valente oder Manfred Krug haben es ihm in den folgenden Jahrzehnten nachgetan. Schon 1903 hatte Edmund Eysler in seinem Singspiel „Bruder Straubinger“ konstatiert: „Küssen ist keine Sünd’ bei einem schönen Kind“. In Film, Foto, Kunst und Märchen ist der Kuß in zahllosen berühmten Varianten festgehalten worden, und vor allem der Schlager hat ihn ikonisch gemacht.
 
Mit Macht schießt nach dem langen, dunklen Winter der Frühling den Menschen in die Glieder, die Natur grünt und blüht wieder, und auf den Parkbänken können endlich wieder Verliebte in zärtlicher Umarmung sitzen. Kaum etwas ist so oft bedichtet, besungen, gemalt und definiert worden wie der Kuß. Nichts ist so süß, so beglückend, so herzerwärmend wie er. Sicher, es gibt auch den Judaskuß des Verräters, den Todeskuß des „Paten“, den arg strapazierten Rollbahnkuß des Papstes und all die devoten Küsse auf fürstliche Hände, Kardinalsklunker und herrschaftliche Füße, aber davon soll hier nicht die Rede sein. Der Musenkuß und der galante Handkuß haben schon mehr von dem, was gemeint ist: wir sprechen von dem verliebten Kuß, der Zärtlichkeit, der Erotik und vom Knutschen. Und der, beziehungsweise das ist so süß, daß die Franzosen sogar ein Gebäck nach ihm benannt haben, das Baiser.

Ja ich ich küsse, also leb´ ich!

Es muß schon etwas Besonderes sein, was den Frosch zum Prinzen werden und eine Prinzessin aus hundertjährigem Koma erwachen läßt. Es fällt redlich schwer, aus der Fülle der Zitate der Weltliteratur eines auszuwählen, das den Punkt trifft. Von Catull bis Proust, von Mirza Shaffy bis Mörike wurden Küsse beschrieben. Schon beim oberflächlichen Stöbern im Archiv der Musenblätter stieß ich auf einige wunderschöne Texte zum und über das Küssen, die Sie nachlesen können, wenn Sie den jeweiligen Titel anklicken: Hermann Schulz „Der polnische Kuß“  - Sidonie Grünwald-Zerkowitz „Den Kuß auf morgen nicht verschieb!“ - Karl Otto Mühl „Der Handkuß“ - Jürg Schubiger / Wolf Erlbruch – „Zwei, die sich lieben“ - Dorothea Renckhoff „Küssen für Klaus-Dieter“ Der einstmalige Wuppertaler General-Intendant Grischa Barfuß hat viele gesammelt und 1959 in seinem hübschen „Kußbrevier“ herausgegeben. Nehmen wir Heinrich Heines „Ja ich küsse, also leb' ich!“ als Antwort auf Descartes oder den Volksmund: „Man schließt die Augen wenn man küßt, weil man im siebten Himmel ist.“
 

Foto © Frank Becker

Ein neuer Streifzug durch die Geschichte und Theorie des Küssens
 
In einem neuen Streifzug durch Geschichte und Theorie des Küssens fragt Hektor Haarkötter in seinem Buch „Küssen“: Was macht das Küssen eigentlich aus? Warum küßt man nicht überall auf der Welt, sondern nur in bestimmten Kulturen? Was verbindet Liebeskuß, Bruderkuß, Abschiedskuß, Filmkuß und den Gutenachtkuß? Haarkötters Antwort: Küssen ist ein Akt der Kommunikation, eine berührende Kommunikationsart.
Das zeigt er u. a. am naturwissenschaftlichen Wissen über den Kuß, an seiner Geschichte von der Antike bis heute, am Kuß in Film, Literatur, Märchen und der Kunst, an Fragen wie: Ist küssen privat? Was ist der Unterschied zwischen Sex und Küssen? Warum küßt man Gegenstände wie z. B. Ringe? Und was hat die Bussi-Bussi-Gesellschaft mit all dem zu tun?
Mit zahlreichen wissenschaftlichen, cineastischen  und literarischen darunter vor allem lyrischen Textbeispielen unterfüttert Hektor Haarkötter unterhaltsam und amüsant sein durchaus ernst zu nehmendes Dossier. Küssen, das zeigt er in seiner akribischen Untersuchung höchst informiert, wenn auch leider nicht illustriert, ist eine ganz eigentümliche Art der Kommunikation, die längst nicht allen Kulturen zu eigen ist. Nur 46 % der weltweit 168 untersuchten Ethnien und Kulturen kennen den intimen Kuß. Und es könnte sein, daß auch deren Zeit zu Ende geht? Das wäre nicht nur bedauerlich, sondern entsetzlich, denn wie sähe eine Welt aus, in der nicht mehr geküßt wird?
 
Fakten

Hier ein paar Fakten aus eigener Recherche: Da legen zwei Menschen ihre Münder aufeinander, schließen (meist) die Augen, öffnen leicht die Lippen, ertasten erst spielerisch oder ängstlich, dann zart und leidenschaftlich mit den Zungen, die einander magisch berühren, die feuchte Wärme des anderen Mundes. Das heißt dann Kuß und es ist wirklich schön! 34 Gesichtsmuskeln sind daran beteiligt, eine gute Gymnastik, die die Haut straff und geschmeidig erhält.
Während Dr. Aloys Wilsmann 1943 in seinem Buch „Karussell der Liebe“ noch behauptet, daß das Küssen das Leben verkürze, es aber dennoch empfiehlt, weil es so viel Spaß macht, ist die Wissenschaft heute viel weiter. US-Forscher haben herausgefunden - teilte Nora Gau einst im „Lenz“ mit -, daß, wer häufig küßt, bis zu fünf Jahre länger lebt. Na also! Zwar werden beim Küssen fleißig Bakterien (250 Millionen per Kuß!) und Schnupfenbazillen ausgetauscht, doch es aktiviert auch die körpereigenen Neuropeptide, die das Immunsystem stärken. 0,701 Milligramm Fett verliert jeder Küssende pro Kuß, doch kein Anlaß zum Übermut: es macht nicht schlank, denn man bräuchte 750.000 Küsse, um etwa 500 g Fett zu verbrauchen. Wo 1945 der Dauerkuß-Rekord noch bei 6 Stunden 37 Minuten lag, wurde 1999 eine neue Höchstmarke aus Australien gemeldet: 29 Stunden! Aber mal ehrlich, wer will das schon? Da der Kuß auch lebenserhaltend sein kann, nämlich bei der Mund zu Mund Beatmung, wird er im Englischen deshalb auch so genannt,  nämlich „Kiss of life“.

Weil auf Leinwand, Bildschirm und Bühne der Kuß eine wesentliche Rolle spielt - denken wir an Clark Gable und Vivian Leigh in „Vom Winde verweht“ oder an Burt Lancaster und Deborah Kerr in „Verdammt in alle Ewigkeit“ - schien es angemessen, jemanden aus der Branche zu fragen, wie das so ist mit dem Bühnenkuß.
 
Klärchen küßt Egmont

Tessa Mittelstaedt, Tatort-Star, TV-Serien-Heldin, Bühnen- und Filmschauspielerin, fand die Frage nach dem Kuß in einem Interview

Tessa Mittelstaedt - Foto © Frank Becker
amüsant und gab freimütig Auskunft: „Mit zehn Jahren bekam ich von meiner Grundschulliebe den ersten Schmatzer auf den Mund“ erinnerte sich die hübsche Hanseatin lachend, „aber die Schmetterlinge flatterten beim Küssen zum ersten Mal im Bauch, als ich 17 war.“ Da entdeckte sie, was jeder irgendwann herausfindet: den süßen Rausch, der das Gehirn aus und das Gefühl einschaltet.
Auf der Westfälischen Schauspielschule in Bochum hat sie dann die „berufliche“ Variante des Kusses kennengelernt, die rein technisch gar keine ist, denn auch dort werden veritable Küsse praktiziert. Der Unterschied liegt eben darin, daß man unter Umständen auch eine Liebesszene mit jemandem spielen muß (inklusive Kuß), den man nicht mag. Die Rollenarbeit verlangt, daß man Persönliches komplett vergißt und etwas „behauptet“, was nicht da ist: Leidenschaft. Tessa Mittelstaedt: „Es ging!“
Damals stand sie in Wuppertal auf der Bühne und hat als Klärchen im „Egmont“ Martin Bringmann geküßt. Später hatte Siegfried W. Maschek in „Die schmutzigen Hände“ das Vergnügen - allerdings wurde er dafür auch erschossen, jeden Abend aufs Neue. „Es sind wunderbar respektvolle Kollegen, die wie ich ihren Job machen“, sagte sie dazu. „Nicht Tessa küßt Martin, Klärchen küßt Egmont.“ Ein wenig Erotik bringe die Theaterarbeit immer mit sich, was natürlich zu erhöhter Aufmerksamkeit beim Lebenspartner führt, zumal wenn er auch Schauspieler ist. „Es macht schon skeptisch, das zu wissen, ein Grund zur Eifersucht war es aber bisher nicht.“
Die Antwort auf die Frage, wen sie gerne mal geküßt hätte, kam sehr spontan: „Den jungen Marlon Brando, weil er so schöne Lippen hat.“

Katalytische Küsse

Mit einer Mode-Erscheinung, häufig als Torheit verschrien, die für die Beteiligten aber offenbar höchste Genüsse mit sich bringt und ungebrochen Anklang findet, hat das Küssen eine völlig neue Dimension gefunden: Zungen-Piercing heißt das Zauberwort. Wer es probiert hat würde den „Kick“ des Küssens mit dem Zungenstab aus Titan nie wieder missen wollen, war von Melanie S. zu erfahren. Der Kuß erfährt nämlich durch die beiden Titanperlen an den Enden des durch die Zungenspitze geführten Stäbchens eine ungeahnte Verstärkung. „Ich war beim Piercen vor Aufregung schweißgebadet“ gab sie schmunzelnd zu, aber es habe sich gelohnt. Es muß was dran sein, wenn auch kleine katalytische „Stromschläge“ bei der Berührung der Zungen vorkommen, aber das habe „durchaus seinen Reiz“.
 
Unsterblich: Le baiser

Werfen wir einen raschen Blick auf die Kunst. „Kiss“ von Roy Lichtenstein zeigt ihn in gerasterter Pop-Art, Raymond Peynet in liebevollen Zeichnungen, Reg Smythe (1917-1998), Dik Brown und Raymond Young in zeitlosen Cartoons und - einer unter vielen - Frank Frazetta im künstlerischen Comic. Bernd Pfarr beschritt den neuen Weg zwischen Cartoon-Malerei und begleitendem Text, wie ihn F.K. Waechter, Hans Traxler und Robert Gernhardt vorgegeben haben.


Rodin, Le baiser - Foto © Frank Becker

Zu den schönsten Darstellungen des Kusses gehört Auguste Rodins berühmte lebensgroße Marmor-Plastik „Le baiser“ aus dem Jahre 1886. Abgüsse sind außer dem Original in Paris u.a. in der Londoner Tate-Gallery und in der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen zu sehen. Der große Bildhauer hat sich damit unsterblich gemacht. Eines der berühmtesten Kuß-Fotos aller Zeiten, wenn nicht das berühmteste, ist das von Alfred Eisenstaedt am 15. August 1945 auf dem Times Square in New York aufgenommene Bild eines Matrosen, der glücklich über das Ende des Krieges eine Krankenschwester küßt. Wer könnte ihn nicht verstehen - des Krieges und der Dame wegen. Charlie Haden hat es als Cover-Illustration eines seiner besten Alben „Now Is The Hour“ verwendet.
 
Gruß und Kuß

„Gruß und Kuß aus der Wachau“ (oder sonstwo her, wo Romantik anzusiedeln war) hießen Filmschmonzetten im Deutschland der 1950er Jahre, und harte Kerle wie Eddie Constantine schlugen sich mit „Küssen, Kugeln und Kanaillen“ herum. Filmküsse wurden damals meist nur mit fest zusammengepreßten Lippen aufgedrückt - in Hollywood standen Moralwächter gar mit der Stoppuhr daneben, um Exzesse im Keim zu ersticken. Die Zensur lauerte mit Schere und Verbot. Wer hätte damals an „Basic Instinct“ und andere unmoralische Angebote gedacht? Küsse oberhalb des Bauchnabels gelten ja heute fast als spießig. „Heilig's Blechle!“ entfährt es dem Unbedarften - doch dichtete nicht schon Joachim Ringelnatz in „Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument“: „Liebes Kind, ich werde Sie belügen / Denn ich schenke dir drei Pfund. / Denn ich küsse niemals auf den Mund...


Unbekannter Postkartenkünstler

Sehr beliebt sind und waren Postkartenküsse, in kitschiger Serie in den ersten 25 Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschienen und heute romantisch oder kurios dargestellt, aber immer den neidisch machend, der nicht geküßt wird, beziehungsweise jenem/jener etwas versprechend, die/der die Karte erhält. Da steckt die Botschaft im Bild. Sogar bei der Sparkassenwerbung anno 2000. Da stand die Werbung für den OTTO Versand nicht zurück.
Schlager ohne Zahl, Operettenlieder, Hits und Songs erzählen vom Küssen - ein Glück, wer möchte schon etwas von Steuererklärungen oder Autobahnstaus hören? Peter lgelhoff sang in den 1940ern „Der Onkel Doktor hat gesagt, ich soll nicht küssen“, Cliff Richard stellte kategorisch fest „Rote Lippen soll man küssen“, „Küssen verboten!“ behaupteten die Prinzen und „Mach mir bloß kein' Knutschfleck“ war Ixis größte Sorge in der Zeit des neuen deutschen Schlagers Ende der 1980er.


© Versandhaus OTTO


„... kiss me and kiss me again“

Aber wer aus „Casablanca“ das unsterbliche „As times go by“ („A kiss is still a kiss...“) kennt und wie Cher in ihrem „Shoop shoop song“ weiß: „It's in his kiss“, ist auf der besseren Seite. Der genießt „Küsse unterm Regenbogen“ mit Manuela oder „Candy Kisses“ von Tony Bennett, der summt „Kiss me and kiss me and kiss me and kiss me again“ mit Perry Como und versiegelt die Briefe an die Liebste oder den Liebsten mit einem Kuß. Küssen erlaubt!
 
Wer ein wenig mehr über das Küssen erfahren möchte, seine Geschichte, seine Spielarten und seine kulturelle Bedeutung schaffe sich dieses Buch an. Es ist in jeder Hinsicht ein Gewinn und verdient ebenfalls einen Kuß, nämlich unser Prädikat, den Musenkuß.
 
Hektor Haarkötter – „Küssen“
Eine berührende Kommunikationsart
© 2024 S. FISCHER, 284 Seiten, gebunden, Sach- und Namensregister - ISBN-13: 9783103974331
24,- €
 
Weitere Informationen: www.fischerverlage.de